Wenn wir über moderne Führung sprechen, fällt schnell das Wort „Resilienz“. Aber was bedeutet das eigentlich im Unternehmensalltag – jenseits von Coaching-Seminaren und Hochglanz-Folien? Nitin Nohria, Professor und langjähriger Dean der Harvard Business School, bringt es auf den Punkt: Gute Führung zeigt sich dann, wenn nichts nach Plan läuft.
Reaktiv oder proaktiv – das ist hier die Frage
In einer Langzeitstudie mit 27 Top-CEOs fand Nohria heraus: 36 Prozent ihrer Zeit verbringen Führungskräfte im reaktiven Modus. Das heißt, sie kämpfen gegen das Tagesgeschäft, statt aktiv an der Zukunft zu arbeiten. Wer kennt das nicht?
Dabei beginnt nachhaltige Führung genau dort, wo der Kalender aufhört. In Situationen, die auf keiner Agenda stehen. Nohria plädiert deshalb für ein neues Verständnis von Führungsstärke – eines, das Resilienz nicht als mentale Härte, sondern als strategische Flexibilität begreift.
Die „Krisen-Matrix“ für Führungskräfte
Um mit Unerwartetem besser umgehen zu können, schlägt Nohria ein simples, aber wirksames Modell vor: Jede Störung im System lässt sich anhand dreier Schritte einordnen – wahrnehmen, beurteilen, reagieren. Unterstützt wird das durch seine sogenannte Ereignis-Matrix. Sie unterscheidet vier Typen:

1. Grundrauschen
– das Alltagsrauschen, das Führung ausblenden muss
Was ist das?
Ständige Teams-Benachrichtigungen, kleinere Irritationen, triviale Rückfragen – Dinge, die wie Störungen wirken, aber keine strukturelle Relevanz haben.
Führungspraktiken:
Reizfilter trainieren: Führung heißt auch, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Das gelingt durch bewusste Priorisierung und Kommunikationsdisziplin im Team.
Rituale etablieren: Klare Zeiten für Fokussierung und Ruhephasen helfen, das Rauschen zu minimieren (z. B. Fokus-Freitage oder Meeting-freie Zonen).
2. Warngeflüster
– leise Signale, die Aufmerksamkeit verdienen
Was ist das?
Zunahme von Krankenständen, schleichender Motivationsverlust, Kundenfeedback, das sich verändert – Frühindikatoren für systemische Probleme.
Führungspraktiken:
Frühwarnsysteme einrichten: Monatliche Pulsbefragungen, systematische Retrospektiven oder „Stimmungsbarometer“ können helfen, Muster früh zu erkennen.
Dialogräume öffnen: Teams brauchen geschützte Räume, in denen leise Zweifel laut ausgesprochen werden dürfen – ohne Reputationsrisiko.
3. Fanfarenklänge
– sichtbare Probleme, die sofortiges Handeln erfordern
Was ist das?
Plötzlicher Umsatzeinbruch, Sicherheitslücke, mediale Krise – Ereignisse, die unmittelbar auf das System durchschlagen.
Führungspraktiken:
Krisenprotokolle parat haben: Wer in ruhigen Zeiten Entscheidungslogiken vorbereitet, handelt im Ernstfall schneller.
Rollen klären: In akuten Situationen ist es essenziell, wer spricht, wer entscheidet und wer informiert – klare Verantwortlichkeiten vermeiden Aktionismus.
4. Sirenengesang
– dramatische Ereignisse, die zum Überreagieren verführen
Was ist das?
Trends, mediale Aufregung oder einzelne starke Stimmen im System, die schnelles Handeln einfordern – obwohl es möglicherweise gar nicht nötig oder hilfreich ist.
Führungspraktiken:
Strategische Atempausen einbauen: Nicht jede Krise ist ein Feuer, das sofort gelöscht werden muss. Gerade hier gilt: Erst denken, dann handeln.
Szenarien durchspielen: Statt in Aktionismus zu verfallen, hilft es, bewusst Handlungsoptionen zu analysieren – idealerweise im Sparring mit unabhängigen Denkpartner:innen.
Führungskräfte sollten sich also weniger fragen: Was tun wir jetzt? – sondern zuerst: Womit haben wir es überhaupt zu tun?
Führung neu denken: Sichtflug statt Autopilot
Was bedeutet das konkret? Führung im Jahr 2025 ist kein strategischer Masterplan, der auf fünf Jahre ausgerichtet ist. Es ist Führung auf Sicht – mit der Fähigkeit, in unklaren Situationen Orientierung zu geben.
Das beste Beispiel liefert Nohria selbst: Wolodymyr Selenskyj. Bei Amtsantritt als unerfahrener Präsident belächelt – in der Krise jedoch ein Sinnbild entschlossener Führung. Resilienz zeigt sich nicht im Lebenslauf, sondern in der Haltung.
Unser Impuls für Führungskräfte
In einer Welt voller Unsicherheiten brauchen Organisationen keine unerschütterlichen Helden, sondern reflektierte Entscheider:innen mit Gespür für das Wesentliche. Menschen, die den Mut haben, auch ohne vollständige Information Verantwortung zu übernehmen.
Unser Appell: Verabschiede dich vom reinen Reagieren. Lerne, Unvorhergesehenes als Teil deiner Führungsarbeit zu verstehen – nicht als Störung, sondern als Chance.